Ich erblickte 1968 in Schlema das Licht der Welt. Dieses wurde dadurch getrübt, dass es sich hierbei um einen Ort in der damals noch real existierenden DDR handelte und die meisten Haushalte mit irgendwelchen komischen Sachen heizten und die Kinder, wenn sie nicht husten mussten und dabei die Augen geschlossen hielten, den Himmel zumindest im Winter in der Stadt nicht immer klar sahen. Schlema war eine alte Bad-Stadt, bis die Sowjets dort Uran fanden und jenseits von Umweltvorschriften dieses dort als sogenannte Reparationsleistungen sehr offenherzig und offenzügig abbauten. Ob eine Verstrahlung der dort Geborenen stattfand, ist bei mir noch nicht belegt, wenn ich heute das Licht in der Nacht lösche, ist es im Zimmer so dunkel wie bei jedem Anderen auch.
Gelebt habe ich in meinen ersten sechs Jahren in Aue, Zwickau und Zschorlau, also sowohl auf dem Land als auch in der Stadt. Vielleicht liegt es an dieser frühkindlichen Prägung, dass ich heute beides, das Landleben und das Stadtleben suche und auf dem Ehrenberg wohnend eine optimale Verortung dieser Bedürfnisse gefunden habe.
Was Stadt in ihrer Vielseitigkeit, Schönheit und Größe bedeuten kann, lernte ich erst ab 1974 in Wuppertal kennen. In einer seltsamen und seltenen Großzügigkeit, gewährten diese „Vorwärts immer – Rückwärts nimmer“ – Leute meiner Familie die Ausreise aus diesem komischen Land, in welchem Jahr für Jahr die Bewohner sich daran erfreuen durften, dass man Ihnen in stundenlangen Paraden die neusten Panzer und Raketensysteme zeigte. Eigentlich war es aber nur Geld, welches von der BRD in die DDR transferiert wurde; für einige Erleichterungen, zumindest für uns. Eine heutige Stimmung, welche zur DDR–Nostalgie neigt, wird es bei mir daher nie geben. Wer dazu neigt, sollte sich mal etwas näher mit der Stasi beschäftigen und sich die Frage stellen, was solch eine Einrichtung über die jeweilige Staatsform aussagt.
Eine meiner ersten Erfahrungen mit dem Land hinter dem, bzw. jetzt vor dem, „Antifaschistischen Schutzwall“ war meine Einschulung und Werbetafeln von „Wicküler Bier“ und ein Obstmarkt und Eis aus Maschinen, welches auch schmecken kann. Ich habe meine erste Banane hier nicht mit einer Gurke verwechselt, da ich eine vage Vorstellung davon hatte, dass die Farbe braun näher an gelb als an grün liegt. Auch die Form brachte mich auf den rechten Weg. Eines meiner ersten kulinarisch bewertbaren und für gut befundenen Eis kauften mir meine Eltern an einem Stand vor Hertie. Den Stand gibt’s nicht mehr, das Hertiehaus auch nicht, das Eis fiel mir auf den Boden und zum Glück für meine kindliche Seele wurde ein Neues gekauft.
Das war für mich das neue Land. Nicht Demokratie, nicht Freiheit, sondern Eis, Werbetafeln, Bananen. Demokratie und Freiheit und die Erkenntnis dieser Werte, das kam erst später. Aber sie kam noch vor der ersten Wahl, an der ich teilnehmen durfte. Ich habe seit dem noch nie eine einzige Wahl versäumt und immer mein Kreuz gemacht. Warum? Weil es dazu gehört, weil es wichtig ist, weil es meine Teilhabe am Staat ist, weil ansonsten die regieren, die ich glücklicherweise mit sechs Jahren losgeworden bin. Regierungen, die sich nicht dem Votum des Volkes stellen müssen, sind nun einmal nicht gut, auch wenn wir immer wieder an das goldene Zeitalter von König Arthur glauben wollen. Die Wirklichkeit sieht eben immer etwas anders aus. Wählen ist die Streitmacht geben Totalitarismus.
Meine Einschulung und dortige soziale Verortung verlief reibungslos, da ich im Elternhaus mit dem Hochdeutschen vertraut gemacht, noch nicht die Eigenheiten des sächsischen Dialektes angenommen hatte. Die Schule begleitete mein Leben dann genau dreizehn Jahre und wir trennten uns in beiderseitigem Einverständnis, nicht wissend meinerseits, dass die Zeit tatsächlich das war, was mir Ältere immer sagten und ich freiwillig nicht glauben mochte, nämlich die unbeschwerteste Zeit meines Lebens, in der man tatsächlich Musestunden für sich hat und in der man Lasten noch ausgezeichnet auf den Schultern der Eltern abladen kann.
Gegen Ende meiner Schulzeit nahmen mich zwei Freunde zu einem Vortrag über die Tätigkeiten bei und die Perspektiven in der Bundeswehr mit. Eigentlich wollte ich zu dem Vortrag nicht hin und anschließend sind die beiden nicht in der Bundeswehr gelandet, aber ich und das für vierzehn Jahre. Am Anfang war das etwas seltsam mit dem Gehorsam. Da gab es welche, die sagten was und die wollten auch noch, dass man das machte und die bestanden dann auch darauf. Später ging das mit dem Gehorsam dann leichter. Und als ich immer weiter aufstieg und schließlich Kompaniechef war, ging das noch einfacher, außer wenn der Bataillonskommandeur kam, aber der war meistens weit weg. Ein weiteres Problem blieb, ich musste meiner Oma ständig erklären, dass ich nicht in der Reichswehr bin und ich musste ständigen Bildwünschen vom Enkel in Uniform ausweichen. Zur Rache habe ich sie immer bei Veranstaltungen von „Arbeit und Leben“ angemeldet, bis ich die Rückmeldung von den Veranstaltern bekam, dass sie dort tatsächlich erschien und recht diffuse Meinungen vertrat.
Vierzehn tatsächlich sehr schöne Jahre bei der Militärpolizei sind es geworden; während dessen ein Pädagogikstudium sowie zwei Auslandeinsätze in Sarajevo und im Kosovo. Auf dem Balkan lernte ich vor allem zwei Dinge, ersten wie schön dieser Landstrich ist und zweitens was es bedeutete, wenn Verwaltung nicht mehr funktioniert. Und noch ein Drittes: zu was der Mensch fähig ist, wenn er unkontrolliert und unbestraft sein Unwesen treiben kann.
Nach den vierzehn Jahren musste ich mich entscheiden und ich verließ die Bundeswehr, um bei der Polizei anzufangen. Zunächst das zweite Studium, diesmal zum Diplomverwaltungswirt und dann die Arbeit auf den Straßen Wuppertals. Das erste Mal in meinem Berufsleben konnte ich in der Stadt arbeiten, in welcher ich, bis auf ein paar Jahre in München, auch immer wohnte. Ich kam zur Wache am Döppersberg und durfte nun zu Fuß durch die Innenstadt gehen. Seitdem habe ich keine ernstzunehmende Erkältung mehr und meine körperliche Fitness ist recht gut.
In die Gewerkschaft der Polizei trat ich selbstverständlich an meinem ersten Polizisten Daseins-Tag ein. Als die seltsame „Kleiner gelber Koalitionspartner sagt wo es lang geht“-Regierung in Düsseldorf saß, gingen wir Polizisten auch regelmäßig nach Düsseldorf und marschierten dort durch die Straßen und sagten, wo wir lang gehen möchten.
1994 trat ich in die SPD ein. Ich hatte zu dieser Zeit ein Problem: ein Bekannte von mir, ein 18 jähriger Junge aus Eritrea, der seit mehreren Jahren in Deutschland lebte, die Schule besucht und abgeschlossen hatte, einen Ausbildungsplatz nachwies und heiraten wollte, sollte abgeschoben werden. Übrigens, er hat hier dann auch hier geheiratet, ist immer noch verheiratet, hat mehrere Kinder und erwirtschaftet stets seinen Lebensunterhalt. Aber damals sah das zunächst anders aus. Er sollte weg, seine eingereichten Unterlagen waren auf einmal auf dem Standesamt verschwunden, sein Konsulat wollte keine erneute Ehe-Unbedenklichkeitsbescheinigung – ja, ja, so was gibt es – ausstellen, er verlor seinen Ausbildungsplatz, da er abgeschoben werden sollte – das ist gesetzlich so vorgeschrieben – gleichzeitig wurde seine Ausreise angestrebt, da er ja keine Arbeit oder keinen Ausbildungsplatz mehr hatte und so weiter. Wer sich mit der Materie beschäftigt, wird wissen, was es da noch so alles an raffinierten Köpenickiaden und sonstigen Schwierigkeiten gibt. Ich hatte also dieses Problem, oder eigentlich nicht ich selbst, sondern dieser Junge, aber ich machte es zu meinem Problem. So fing für mich das politische Leben an.
Ich wohnte damals in München und in Wuppertal bei einer Familie in Laaken und die sagten mir, wenn Du ein Problem hast, dann musst Du mit Klaus sprechen. Das kam mir so ähnlich vor, wie als wenn ich mit Don Corleone hätte reden sollen. Wir trafen uns also und nach dem zweiten Treffen hatte ich einen Aufnahmeantrag für die Partei unterschrieben, ich glaube auf einem Bierdeckel. Vertrag ist Vertrag und der Bierdeckel eignet sich gut für solche Verträge, nicht aber für Steuererklärungen. Klaus wurde dann mein politischer Ziehvater und Freund, ich lernte viel von ihm, vor allem über Satzungen, und wie man jedem zuhören lernt, vor allem den Leuten unten und nicht den Leuten oben.
In der Zeit zwischen Arbeit und politischen Terminen beschäftige ich mich gern mit Literatur. Vor allem der Lyrik gehört mein Herz, beim Lesen und auch beim Rezitieren. Und auch hier hat das schöne Wuppertal mit Else Lasker-Schüler etwas ganz besonderes und wunderbares zu bieten.
Ansonsten lese ich sehr viele Romane, im Durchschnitt schaffe ich ein Buch pro Woche, wenn es nicht allzu viele Seiten hat. So ca. vierhundert sind in Ordnung und machbar. Leicht panisch werde ich, wenn ich einmal tatsächlich irgendwo sein sollte, ohne ein Buch in Reichweite. Oder, im Notfall ohne einen Buchladen in der Nähe, wo ich ein Buch kurzerhand kaufen könnte. Jeder hat seine Vorstellung von der Hölle. Meine ist, an einen Ort gebunden zu sein, an welchem es keine Bücher gibt.
Jahrelang habe ich leider der dummen Angewohnheit des Rauchens angehangen. Diese Sucht habe ich seit vier Jahren überwunden. Oder eigentlich nicht, ich bin lediglich ein „trockener“ Raucher. Ich rauche nicht, spare das Geld, lebe deutlich gesünder, aber die Lust bleibt irgendwie. Na wie auch immer, zumindest rauche ich nicht mehr und habe auch meist kein Verlangen nach einer Zigarette. Das Problem war, nach den körperlichen Reaktionen auf den Nikotinentzug, dass ich zunahm, schlichtweg dicker wurde. Als ich schließlich vierzehn Kilo mehr auf die Wage brachte, überlegte ich mir schlagartig etwas. Ich begann zu Laufen. Seitdem ist das Laufen eins meiner weiteren Freizeitgestaltungen. Meist drehe ich meine Runden auf dem Ehrenberg. Dort gibt es eine schöne Runde, beschrieben in der Rubrik des Ehrenberger Halbmarathons, die mir dabei hilft, das zu essen, was ich will, ohne aufzugehen wie ein Hefezopf. Und ohne schlechtes Gewissen beim Essen.
Nun soll es das erst einmal zum Lebenslauf gewesen sein, das Interessante am Leben ist, dass es immer weiter geht und, dass es immer etwas Neues zu entdecken gibt.
